Without Going out of my Door


Der Passagier Paul Marnach

 

 

 

 

 

 


Dann konnte ich es lesen: Paul kam am 2. Januar 1912 in Ellis Island an. Er war damals 22 Jahre alt, ein Single. Mit einem Schiff namens "Potsdam".  An Bord war er gegangen in Rotterdam NL, Provinz Südholland.

Die Angaben aus Einwanderungslisten wurden vor Jahren  zunächst auf Mikrofiches gespeichert, wie ich später erfuhr. Dann haben ehrenamtliche Mitarbeiter, Jugendliche von der "Kirche der Heiligen der letzten Tage", sie in die Datenbank eingegeben. Daten von etwa 17 Mill. Menschen werden im AFIHC verwaltet. Mein herzlicher Dank an die fleißigen Mormonen!


Wer fuhr noch mit?

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Wie man hier sieht: Pauls Name steht  auf Seite 157 in der Reihe 21. Noch heute, fast 100 Jahre danach, kann man alle seine Mitreisenden nachlesen. Viele Namen sind zwar nicht korrekt geschrieben, aber das System "Soundex" kann das alles schaffen. Es weiß, dass "Dortmard" auch eventuell Dortmund heißen kann, "Wenterswyk" uns bekannt ist als Winterswijk, und dass die Familie "Hussbaumer" wahrscheinlich Nußbaumer heißt und statt aus "Bregeas" aus Bregenz, Österreich am Bodensee kam. Unvorstellbar viele Schicksale waren hier zusammengewürfelt auf der Potsdam! 2 103 Passagiere allein, Männer und Frauen, Kinder, Erwachsene und Babys. Vielleicht noch mehr, wenn das Schiff überfüllt war. In den Zeiten, als die Auswanderung boomte. Dazu kam noch die Besatzung. Aus den verschiedensten Ländern strömten die Menschen nach Amerika, in das "weite Land".


 

Handschriftliche Liste

Der Liste nach hat also Paul (Nr. 21) 
  • die Überfahrt selbst bezahlt.
  • Er hatte nicht die normalerweise erwarteten 50 $ Bargeld bei sich
  • sondern nur 24 $, 
  • er war vorher nie in den Staaten,
  • wurde von einem Freund erwartet, 
  • der Freund hieß Leo Haas,
  • wohnte in New York NY, 6 State Street,
  • Paul hatte noch nie im Knast gesessen,
  • er war kein Polygamist, 
  • auch kein Anarchist, 
  • geistig und körperlich war er gesund,
  • er war 5 Fuß 7 Zoll groß (1,70m, damit sogar der längste Passagier auf der Liste), 
  • von normalem Körperbau,
  • hatte braunes Haar 
  • und graue Augen,
  • hatte keine besonderen Kennzeichen,
  • kam aus Deutschland, 
  • aus der Stadt Dortmund (wo aber nicht sein Geburtsort war, wie hier irrtümlich angegeben! Geboren war Paul in Bochum. Aber das ging wohl im Trubel der vielen Eintragungen und durch das ungewohnte Englisch unter.)

Es ist seltsam und anrührend, 9 Jahrzehnte später, als kein Mensch mehr lebt, der Paul kennt, diese ganz persönlichen Einzelheiten über ihn zu lesen. Die Wörter stehen da in der eiligen Handschrift irgend eines Angestellten der Holland-Amerika-Linie, der sie  einem (vermutlich) kalten und trüben Dezember-Tag des Jahres 1911 im Büro der Rotterdamer  Hafenbehörde niederschrieb. Einiges ist durchgestrichen, berichtigt, (Paul besaß demnach nicht die erwarteten 50$, auch nicht 25$, sondern letztendlich nur 24$!), hinzugefügt (Leo Haas war kein Verwandter, sondern Pauls Freund! ... ). 

Lange vor meiner Geburt schon war Paul verschollen, seine Spuren nicht mehr auffindbar. Ich hatte nur gelegentlich ein paar alte verblasste Schwarz-Weiß-Fotos von ihm gesehen. Nie hätte ich erfahren, dass er braunes Haar und blau-graue Augen hatte. Bis zu jenem Abend im Mai 2001...


... whether going to join a relative or friend? Wer von diesen mag Pauls Freund Leo Haas gewesen sein, den er in New York besuchen wollte? Dem Geburtjahr nach (Paul war 1889 geboren) könnte es jeder von ihnen gewesen sein. Oder handelt es sich hier immer um denselben Leo Haas, nur mit ein paar Abweichungen  durch Schreibfehler und Ungenauigkeiten, wie sie immer mal wieder vorkommen???

Leo Haas - International Genealogical Index / GE
Gender: Male Birth: 31 MAR 1885 Burscheid, North Rhine, Westfalen, Preussen

Leo HAAS - 1880 United States Census / Pennsylvania
Son Gender: Male Birth: <1880> PA

Leo Haas - International Genealogical Index / NA
Gender: Male Birth: 19 JAN 1880 Manhattan, New York, New York

Leo HAAS - U.S. Social Security Death Index
Birth: 14 Jan 1882 State Where Number was Issued: New York Death: Jan 1967

 

 

 

 


Wenn man in Suchmaschinen die erwähnte Adresse 
6 State Street, NYC, eingibt, wo angeblich Pauls Freund Leo Haas wohnte, landet man Anfang der 1900er beim Leo House, einer katholischen Unterkunft für deutsche Einwanderer.

Boroughs of Manhattan and the Bronx
Leo House for German Catholic Immigrants, 
6 State Street

Auch heute existiert dies Haus noch an anderer Stelle in New York als Zuflucht und spirituelles Zentrum:

Retreat opportunities/spirituality centers
The Leo House in NYC is available for retreats. Call 212-929-1010 for additional information.

Zu der katholischen Unterkunft würde auch gut der erwähnte Father Nageleisen passen, offensichtlich ein katholischer Priester, an den sich deutschsprachige Immigranten wenden konnten. War es nun Leo Haas oder das Leo House? Möglicherweise ein Irrtum in der Schiffsliste? Oder ein Wortspiel, das Paul erfunden hat?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Auf der Abbildung oben sieht man an der Spitze Manhattans die 6 State Street eingezeichnet, wo damals das Leo House stand, (ein Heim für katholische Immigranten aus Deutschland), in unmittelbarer Nähe zum Broadway und zu Trinity Church, (von wo Paul eine Ansichtskarte an seine Eltern in Dortmund schrieb und einen Gruß an Schnipp),  
gegenüber von Ellis Island, (wo er von Bord der Potsdam gegangen war und amerikanischen Boden betreten hatte).

Foto oben von Ian Britton


Das Schiff, mit dem Paul über den Großen Teich schipperte

 

Die Potsdam konnte 
2 103 Passagiere
fassen 
(282 in der 1.Klasse, 21 in der 2.Klasse, 1 800 in der 
3. Klasse im Zwischendeck.),


ein echter Ozeanriese, gebaut in Deutschland,  in der Reederei Blohm & Voss in Hamburg, im Jahr 1900

Sie hatte 12 835 Bruttoregistertonnen, war 571Fuß (174m) lang, 62 Fuß (19m) breit, hatte Drillings-Dampfmaschinen, Doppelschiffsschraube, eine Geschwindigkeit von 15 Knoten, (= 28 km/h), 

Gebaut für die Holland-Amerika-Linie,  
fuhr seit 1900 unter niederländischer Flagge auf der Linie Rotterdam-New York, unter dem  Namen Potsdam



Die Potsdam verwöhnte die Passagiere der Ersten und  Zweiten Klasse mit einer  Luxusausstattung und behaglichen Aufenthaltsräumen (siehe Foto!). Dennoch war sie eindeutig als Schiff für Auswanderer geplant: sie konnte 282 Personen in der 1. Klasse, 210 in der 2. Klasse, aber sage und schreibe 
1800 Zwischendeck-Passagiere
befördern. - Wegen ihres auffallend hohen Schornsteins (funnel), der jedem sofort ins Auge fiel,  wurde sie allgemein scherzhaft "Funneldam" genannt. 


Sie fuhr 
1900 - 1914 als Potsdam für die Holland-Amerika-Linie, 
seit 1915 unter dem Namen Stockholm für die Schweden-Amerika-Linie, 
ab 1928 als Solglimt als Walfang-Mutterschiff,
seit 1931 für Norweger,
seit 1941 als Sonderburg für die Deutsche Kriegsmarine,
und wurde 1947 verschrottet.


Bei seiner Durchschnittsgeschwindigkeit von 15 Knoten (~28km/h) hat die Potsdam - bei unterschiedlichen Wetterbedingungen - etwa 2 Wochen für die Überfahrt Rotterdam-New York gebraucht. 

So lange war Paul im Dezember 1911 bis zum 2. Januar 1912 unterwegs auf dem Atlantik, bis er in Ellis Island ankam. Also ist er kurz vor Heiligabend an Bord gegangen, hat er sogar Weihnachten auf dem Atlantik verlebt. Und Sylvester/Neujahr. 


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