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Weinen und Lachen ...


 

So KÖNNTE es gewesen sein:

Paul geht 22jährig im Dezember 1911 in Rotterdam NL an Bord des Dampfschiffs  "Potsdam", Holland-Amerika-Linie.

Er kommt am 2. Januar 1912 nach mehrwöchiger Überfahrt in New York, Ellis Island an.
Am 4.1.1912 , 12,30 PM schickt Paul aus New York, Hudson Terminal Station, eine Karte an seine Eltern in Dortmund und teilt ihnen seine Ankunft in Amerika mit. Er bestellt Grüße an seinen Foxterrier Schnipp.

Paul weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau, wohin er weiterreisen wird: soll er nach Venezuela gehen? Oder findet er einen Job in NY? Er entscheidet sich am Ende für das benachbarte Pennsylvania. Warum? Dort sind schon viele Deutsche angesiedelt, und Leute mit seinem Beruf (Bauingenieur o.ä.) werden in den unaufhörlich weiter wachsenden Städten gebraucht.

Foto oben und letztes auf dieser Seite
370 000 Clip Arts, Planet Medien AG, CH Zug




Er findet eine Anstellung in dem aufstrebenden Städtchen Connellsville (oder evtl. in Uniontown), das damals das Weltzentrum für Koksproduktion ist und lt. einiger Quellen zu dieser Zeit den höchsten Millionärsanteil des Landes (oder der Welt?) hatte... Koks ist ein wichtiger Faktor bei der Stahlerzeugung. 



Die Gegend erlebt gerade eine wirtschaftliche Blüte und einen Bauboom. Drei Jahre zuvor war Connellsville zur Stadt ernannt worden, zur ersten Stadt in Fayette County. Paul arbeitet an der Planung von Regierungs- und Verwaltungsgebäuden.

                                                             Abb. : Connellsville, Fayette County, PA, Anfang der 1900er Jahre 


 


 

                        





 

 

 

Abb. : In Uniontown Anfang der  1900er, www.antiquephotographics.com

 


 

Er wohnt aber wahrscheinlich in dem kleinen Ort Owensdale ganz in der Nähe, wohin es eine Zugverbindung gibt, die er wohl täglich benutzt. Warum? Vielleicht wohnten dort Kollegen, oder die Miete war niedriger, oder es sagte ihm die ruhige Lage zu.

 Er lernt das Industriegebiet rund um "Smoke City" Pittsburgh kennen, aber auch das liebliche Umland von Connellsville, die malerischen Flusstäler des Youghioghenny River, die stillen Wälder und die schroffen Fels-Klippen von Fayette County.

Durch seine herzliche Art schließt er schnell Freundschaften. Er gewinnt Selbstbewusstsein ("Liebe Eltern, habe ich mich nicht gut gehalten?"), sicherlich durch beruflichen Erfolg und  durch seine Tüchtigkeit. Er ist nun ein attraktiver junger Mann.

 

Foto: Paul mit etwa 23 Jahren auf der Fahrt in die USA

 


 

Jahrelang konnte ich mir nicht erklären, wie das alte schemenhafte Foto oben zustande kam. Anscheinend trägt Paul einen flotten Hut? Oder ist das dunkle Rund etwa ein Bullauge? Was für ein seltsames Muster verziert dann die Wand hinter ihm? Sieht fast aus wie Meereswellen. ... 

Ja, es sind Meereswellen! Und Paul trägt keinen Hut, er steht auch nicht vor einem Bullauge sondern auf Deck vor einem Lüfter, der den Laderäumen und den verschiedenen Decks im Bauch des Ozeanriesen Frischluft zuführt und verbrauchte Luft austauscht (wie auf der Fotomontage links, dahinter die See). Wahrscheinlich hielt der Bordfotograf der "Potsdam" diese Bildkomposition für eine gute Idee, mit Recht!

 


 

Die ganze Zeit über hält Paul brieflichen Kontakt mit seinen Eltern und seinen Brüdern. (Seine einzige Schwester Martha war 1911, im Jahr seiner Abreise, 16-jährig an Diphtherie gestorben.) Der Ton seiner Briefe und Karten ist liebevoll und lässt auf eine enge Bindung an seine Familie schließen. - Im Dezember 1913 stirbt seine Mutter 54jährig in Dortmund. Ob und wann Paul davon erfahren hat, wissen wir nicht. ("Bitte, schreibt mal wieder! Ich habe so lange nichts von euch gehört.")



 

 

 

 

 

 

 



Foto: Connellsville im Schnee, Anfang der 1900er Jahre

 

Pennsylvania hat ein feuchtes Kontinentalklima: große Temperaturunterschiede liegen zwischen Sommer und Winter, in Extremwerten etwa zwischen +40° bis -40° Celsius. Die Winter in Pennsylvania, insbesondere in der Gegend von Pittsburgh, sind schneereich und dauern lange. 

Als Paul knapp drei Jahre in Pennsylvania gelebt hat, erkrankt er im November/Dezember des Jahres 1914  schwer. Er hatte sich bei einer Autofahrt erkältet. Damals wütet in dieser Gegend eine Grippe-Epidemie, eine der vielen Varianten der gefährlichen Influenza oder kurz Flu, wie man aus den Zeitungsarchiven erfahren kann. Diese Grippe führte meist zu einer lebensbedrohlichen Lungenentzündung, so auch bei Paul.

Er stirbt im Dezember 1914 mit 25 Jahren und wird wahrscheinlich auf einem der drei  kleinen privaten Friedhöfe in Owensdale beigesetzt. Möglicherweise wird sein Tod nicht ins SSDI (Sterberegister) eingetragen, wofür es verschiedene Gründe geben kann. Sie sind an anderer Stelle aufgeführt. (siehe Kapitel "Listen für Lebende und Tote")  Entscheidend für das Fehlen jeglicher Registrierung seines Todes ist sicher auch, dass er weder eine Witwe noch Kinder hat, die evtl. eine Hinterbliebenen-Rente von seiner Versicherung beantragten. 


 

Vier Monate vor Pauls Tod, im August 1914, brach der erste Weltkrieg (1914-18) aus. Deutschland kämpfte gegen England, Frankreich, Russland, später auch gegen die USA.. 

Schon vorher war der Brief- und Funkverkehr mit Amerika für jetzige  Verhältnisse schwierig und zeitraubend. Wie es scheint, kam alle paar Monate eine Karte oder ein Brief von Paul bei seinen Eltern an, ebenso umgekehrt. Telefongespräche in Gang zu bringen, war extrem kompliziert. Sie wurden handvermittelt, dazu war die Verständigung mit dem "Operator" in einer Fremdsprache schwierig. 

Paul hat sich sicher oft einsam gefühlt, seine Familie wird ihn ebenso bitter vermisst haben. (Heute ist alles anders. Telefonate mit Übersee sind so einfach wie ein Ortsgespräch. Und es gibt die Möglichkeiten des WorldWideWeb mit seinen weltweit abrufbaren Informationen und Suchmaschinen. Man kann sekundenschnell E-mails abschicken und entgegennehmen, kann um den ganzen Erdball chatten, kann bei "Videokonferenzen" seinen Gesprächspartner sogar sehen, auch wenn er in Pennsylvania, Kalifornien oder in Iowa sitzt....  das alles hätte man damals sicherlich für utopische Spinnereien gehalten.)


 

Nach Kriegsausbruch 1914 ist Deutschland mehr oder weniger völlig von jedem Nachrichtenaustausch mit dem Ausland abgeschnitten. Wann wird Pauls Familie von seinem Tod erfahren haben? Seine drei Brüder mussten inzwischen Studium und Berufsausbildung abbrechen und  sind Soldaten geworden. Der 62-jährige Vater Heinrich Marnach arbeitet nach den Jahren an der "Aplerbecker Hütte" wieder freiberuflich als "Civil-Ingenieur". Er wohnt in Dortmund im "Kreuzviertel", zu dem auch der "Südwest-Friedhof" gehört, wo er im Jahr zuvor seine Frau Maria begraben musste. Die einstmals heile Familie ist nun auseinander gerissen und in alle Winde zerstreut. 

 

 

Foto: Pauls Familie im ersten Weltkrieg

Seine 3 Brüder sind Soldaten und haben Front-Urlaub
in Dortmund,
vlnr Max, Ernst, Heinz, und Pauls Vater Heinrich Marnach

 


 

So ist es erklärlich, dass man später über Pauls Schicksal nur weiß: 
Paul ist im Dezember 1914 in Owensdale, Nordamerika an Lungenentzündung gestorben.

Foto: Einsame Gräber, irgendwo am Waldrand in den USA.  Ähnlich wird Pauls Grab ausgesehen haben.

"Die Gräber lagen direkt neben dem  Grundstück, in einer Reihe am Zaun entlang .. am Waldrand entlang ... " So werden solche Friedhöfe  beschrieben. -  Die Gegend von Owensdale, PA wird in den 30ern durch Kohle-Tagebau verwüstet und entstellt. Die drei kleinen Friedhöfe dort sind wahrscheinlich längst verschwunden. Bis heute konnten wir Pauls Grab nicht auffinden.

 


 

Alone we are born
And die alone;
Yet see the red-gold cirrus
Over snow-mountain shine.
Upon the upland road
Ride easy, stranger ...

Epitaph des Dichters Jim Baxter, 1926-1972

 


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