1943-45: In der Fremde


 

Helden ohne Orden

Nicht springen! Um Gottes Willen!

Ein anderer Soldat hat meiner Mutter und mir das Leben gerettet. Das kam so: Der zerstörte Viadukt war inzwischen wieder notdürftig zusammengeflickt und passierbar gemacht worden, hatte aber kein Geländer oder andere Absicherungen, und Züge konnten ihn vorsichtig im Schritt-Tempo befahren. Er führte, wie schon erwähnt, unmittelbar in einen Tunnel, an dessen anderem Ende der Arnsberger Bahnhof lag. 

Mitten auf dem Viadukt wurde unser Zug von Tieffliegern beschossen. Der Zugführer versuchte, den Zug in den Tunnel zu fahren, die letzten Waggons passten aber nicht mehr hinein. Sie standen schutzlos mitten auf der hohen Talbrücke. 

Alle gerieten in furchtbare Panik, schrieen, warfen sich auf den Boden, meine Mutter packte mich, riss die Abteiltür auf und wollte aus dem Zug springen, um wegzulaufen. Ein eiserner Griff hielt sie zurück. "Um Gottes willen! Nicht rausspringen! Sie stürzen achtzig Meter tief ab in die Ruhr! Mit Ihrem Kind!" schrie ein Landser sie an. God bless him! - 

Nicht die ordenbehängten Generäle, die einfachen Soldaten, die Väter und Mütter, ... das waren in Wirklichkeit die Helden und Heldinnen des Krieges! - 


Wer baute das siebentorige Theben? 
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? 

(Bertolt Brecht, Fragen eines lesenden Arbeiters)


Der gute Mensch von Leer in Ostfriesland

Hierher gehört auch die Geschichte, die sich in Leer ereignete, einem hübschen ostfriesischen Städtchen. Es muss im Herbst 1945 gewesen sein, in den chaotischen Wochen nach Kriegsende, als alles in Trümmern lag, die Bahnlinien kilometerlang zerstört, die Brücken gesprengt waren. 

Als man selber zusehen musste, wenn man in eine andere Stadt wollte: ein Stückchen mit der Eisenbahn, ein paar Kilometer am Bahndamm entlang stolpernd wandern, über holzgezimmerte Notbrücken halsbrecherisch balancieren, wieder ein Stückchen Bahnfahrt ... oder ein paar Kilometer mit dem Pferdewagen, dann wieder wandern ... oder auf der Ladefläche eines altersschwachen Lastwagens dahinholpern ...

Geradeso wollten wir uns durchschlagen nach Ostfriesland, wo der jüngste Bruder meiner Mutter in einem kleinen Dorf als Kriegsgefangener zusammen mit noch ein paar Kameraden bei Bauern in einem Schweinestall einquartiert war. Das war gar kein so schlechtes Leben ... bis auf die Ratten, die nachts im Stroh raschelten und knisterten. 

Die Kriegsgefangenen machten sich im Dorf nützlich und gingen bei Landarbeiten zur Hand, oder fertigten Bürsten, Pinsel, Besen aus den Schweifhaaren der Pferde, um sie gegen Speck oder Kartoffeln bei den Bauern einzutauschen. Meine Mutter  erhoffte von Onkel Hans ein bisschen Trost und Beistand, nachdem mein Vater kurz vorher verstorben war und wir beide ganz allein in der Welt standen. Ich war damals 9 Jahre alt... Bis Leer in Ostfriesland fuhren wir recht und schlecht im Zug. Aber dann gings nicht mehr weiter. Endstation!

Foto aus www.meinestadt.de   Leer/Ostfriesland 


So standen wir zwei nun allein und ratlos neben den Bahngleisen. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Ein Bahnhofsgebäude gab es auch nicht, sicher hatte es die Kämpfe beim Einmarsch der Alliierten nicht überstanden. Da war nur eine schäbige Holzbaracke, wo man Fahrkarten kaufen konnte. Die Dunkelheit brach schon herein, es wurde langsam empfindlich kalt. Deshalb gingen wir in das Bretterhäuschen und setzten uns drinnen auf eine Bank. Wir fühlten uns ziemlich gottverlassen.

Plötzlich war da ein Bahnbeamter. Er wollte das Häuschen für die Nacht abschließen. Es bereitete ihm sichtlich Probleme, uns dort zu finden. 

"Am besten wird es sein, Sie bleiben über Nacht hier sitzen mit Ihrem kleinen Mädchen und ich schließe die Tür von außen ab," sagte er nach einigem Nachdenken zu meiner Mutter. "Dann haben Sie Schutz vor dem Gesindel, das jetzt durch die Gegend zieht, das die Leute überfällt, mordet und plündert. Ich habe die Nacht über Dienst drüben im Stellwerk. Morgen früh schließ ich dann wieder auf und Sie können weiter." 

Wir waren es zufrieden, froh, ein Dach über dem Kopf zu haben in der kalten Herbstnacht. Sofort kuschelte ich mich an meine Mutter und schlief ein, sorglos, wie es nur Kinder sind.

 

Abb.: Ein Fahrdienstleiter beim Dienst  im Stellwerk 
Foto: 
www.norbert-weise.de 


In der Nacht wurde ich plötzlich durch laute Stimmen geweckt, eine Taschenlampe warf ihren  Lichtkegel durch den stockdunklen Raum ... Was war los? Ich hörte wie meine Mutter mit dem Bahnbeamten sprach.

Der sagte gerade aufgeregt: "Ich habe keine ruhige Minute, wenn Sie mit dem Kind hier mutterseelenallein sitzen. Sie kommen jetzt mit ins Stellwerk, da ist es warm und sicher! Und ich brauche mir dann keine Sorgen mehr um Sie zu machen." 

Meine Mutter war natürlich glücklich darüber. Sie hatte schon einen Todesschrecken gekriegt, als sie draußen Schritte hörte in der Nachstille. Aber nun war ja alles gut! ...

Das Stellwerk war ein kleines Häuschen mit spitzem Dach und roten Dachpfannen am Ende eines Bahnsteigs. Eine Tür zu ebener Erde war der Eingang, dann ging es eine Treppe hoch zum ersten Stock, wo der Beamte durch große Fenster nach allen Seiten einen guten Überblick über Gleise und Signale hatte. Aus Dunkelheit und Kälte kamen wir in einen hellen Raum, aus dem uns anheimelnde Wärme wie ein freundliches Willkomm entgegenschlug. 

Die kleine Stube war vollgestopft mit technischem Gerätschaften: Kurbeln zum Öffnen und Schließen der Schranken, Stellhebel für die Weichen und Signale, Sicherungskästen, Schalttafeln, Telefone, Strippen und Kabel, Schaltpläne und Lageskizzen, geheimnisvolle metallene oder schwarzglänzende Apparate auf Borden und an den Wänden, deren Bedeutung ich mir nicht erklären konnte ... 

Durch die Wärme fielen mir gleich die Augen zu und ich fing an, im Stehen schwankend einzuschlafen. Der Mann wusste Rat: er hängte die weiße Zimmertür aus, legte sie quer über den winzigen Arbeitstisch und eine Stuhllehne, da hatte ich ein Bett für die Nacht. Hier waren wir sicher, nichts konnte uns mehr geschehen. 

 

Abbildungen: Stellwerk auf dem Bahnhof Leer/Ostfriesland 
Foto:
www.nicospilt.com 

 


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