Land der dunklen Wälder


Gerdauen ist schöner! 

Von August Winnig

Da kam einmal ein kleines blondes Mädchen von weither in unsere Stadt. Es hieß Marie und war aus Gerdauen in Ostpreußen. Da Marie aus solcher Ferne kam, war sie sogleich ein Gegenstand unserer besonderen Aufmerksamkeit, und wir zogen sie alsbald in unseren Kreis. Wer von uns kannte Gerdauen! Keiner hatte auch nur jemals den Namen gehört. Aber wir hatten eine alte, große "Landkarte von der preußischen Monarchie", die stammte aus dem Jahr 1858 und hing an der Wand, und wir betrachteten sie gern in Abwesenheit des Lehrers aus der Nähe. 

Da fanden wir nach langem Suchen den Namen Gerdauen. Herr Gott, war das weit! Wir mussten uns auf die Zehenspitzen stellen, wenn wir den kleinen Namen lesen wollten, und drückten dann die Spitze des Zeigefingers darauf: hier ist Gerdauen! Da wurde die Stelle bald etwas dunkel, und wir konnten sie allmählich von unseren Plätzen aus erkennen. Da, wo der dunkle Fleck auf der rosafarbenen Landkarte war, da lag Gerdauen, Mariens Heimat, das ferne, berühmte Gerdauen.

Was war Gerdauen doch für eine wunderbare Stadt! Wenn Marie davon erzählte, glänzten ihre Augen. Es gab dort unglaublich viele Hühner, Gänse, Schafe und Schweine, Kühe und Pferde! Jeder Mensch dort besaß solchen Reichtum. Und dann war dort ein See, so gewaltig groß und schön, dass man es sich gar nicht vorstellen konnte, und Fische waren darin - - - das war überhaupt nicht zu beschreiben.......

Die Kinder zeigen Marie nun ihre eigene Heimat, den malerischen Harz, mit Bergen und Tälern, mit alten Gemäuern, Kirchen, Domen, das weite Land in seiner Fruchtbarkeit, die Städtchen und Dörfer mit ihren roten Dächern und weißen Kirchen, dem glitzernden Fluss und dem grüngoldenen Meer der Wälder. Aber immer wieder, wie überwältigt und bis zu Tränen gerührt sie auch ist von all der Schönheit, immer wieder spricht sie den Satz: "Gerdauen ist schöner!"


Viele Jahre vergingen, ehe ich Gerdauen sah. Auf einer Fahrt durch Ostpreußen trat ein Mitreisender in den Wagen und sagte, jetzt seien wir in Gerdauen. Da fiel mir ein, welche Bedeutung dieser Ort einmal für uns gehabt hatte, und ich ging hinaus in den Gang, und sah an, was von Gerdauen zu sehen war.

Aber glaubt nicht, dass ich etwas gegen Gerdauen sage! Wohl sah ich keine weiße Kirche auf hohem Berge, sondern nur einen roten Turm auf ebenem Land und statt der Wälder nur die herbstlich kahlen Kronen einiger Bäume. Auch sah ich keine altersgraue Stadtmauer mit efeubewachsenen Wehrtürmen und hohen Dächern dahinter, sondern nur eine Zeile niedriger Häuser. Aber ich sage nichts gegen Gerdauen. Denn auch dort wohnen Menschen, die dort geboren und aufgewachsen sind und sich im Herzen immer mit diesem Boden und allem, was er trägt, verbunden fühlen. Sie lieben ihre Heimat und können nicht anders, und das ist gut. Ihnen allen mag es so gehen wie der kleinen blonden Marie: man kann ihnen alle Schönheit der Fremde zeigen, dass ihre Augen trunken darob werden, so wird ihr Herz immer wieder sprechen: Gerdauen ist schöner!

Abb.: Gerdauen in Ostpreußen


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