Masurenfahrt 1995Wolfgang Niehues erzählt
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Nicht, weil er baufällig war, sondern, weil er Politiker und Stadtplaner sich in den Kopf gesetzt hatten, dass Gelsenkirchen etwas Neues braucht... die Öffentlichkeit hatte erst verstanden, was das bedeutete, als es zu spät war. Ein etwas lieblos da hingeklatschter eckiger Achtzigerjahrebau wurde gebaut, in dem – kein Witz! – bei der Planung die Bahnhofstoiletten glatt vergessen worden waren. Der Jubel über "unseren" neuen Bahnhof währte auch bei den wenigen Begeisterten nicht lange: nicht mal zehn Jahre später wurde allen Ernstes von den (ziemlich gleichen) Stadtoberen diskutiert, den gesamten Bahnhof wieder abzureißen, weil er ja so missglückt wäre…ein Schuft, wer sich da an Schilda erinnert fühlt.
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Doch hier stehen wir nun, meine Freundin Judith und ich, trotz alledem voll Vorfreude auf den Urlaub an den sagenhaft schönen Seen Masurens.
Der polnische Linienbus Köln - Olsztyn, preislich vollkommen konkurrenzlos verglichen mit deutschen Reiseunternehmen, soll hier gleich Zwischenstation machen. Äußerlich sehe ich zwar ziemlich ruhig aus, aber im tiefsten Inneren hat meine alte Bekannte namens Paranoia wieder voll von mir Besitz ergriffen.
— Stehen wir hier vielleicht umsonst? — Vielleicht haben wir uns im Tag vertan!? —
Oder ist der Bus vielleicht statt um elf schon um zehn gefahren? — Er könnte auch
auf dem Weg hierher verunglückt sein! — …oder er verunglückt gleich mit uns. —
Was, wenn die Fahrer uns nicht auf ihrer Liste finden? — Sind wir hier überhaupt
am richtigen Busbahnhof? — Oder vielleicht sogar in der falschen Stadt?
Foto: Abend am Plautziger See (Jezioro
Pluski) bei Allenstein (Olsztyn)
Meine Zweifel verflüchtigen sich schneller als die Alkoholfahne des Typen
neben mir, denn endlich fährt ein polnischer Reisebus holländischer Bauart in der
schon beträchtlichen Vormittagshitze vor. Ich gehe zu einem der beiden Fahrer und
frage ihn:
"Äh, entschuldigen Sie, ist das der Bus nach Ollschtinn?" (So
etwa wird Olsztyn meines Wissens richtig ausgesprochen.)
"Ja, dieser", radebrecht er zurück.
Der andere Fahrer lädt ohne weitere Fragen uns und unser Gepäck in den
Bus. Wir scheinen im Bus die einzigen gebürtigen Deutschen zu sein. Es ist unglaublich:
ich dachte immer, mit Deutsch und Englisch, ein paar Brocken Französisch
und Holländisch könnte man sich eigentlich überall verständigen. Nicht
wirklich. Man braucht nur über die Grenze zu fahren und schon muss man Glück
haben, jemanden zu treffen, der noch Deutsch oder schon Englisch kann.
2. Anmerkung
"Ein Zitat":
In diesem Zusammenhang fiel mir ein Zitat von Julia Kristeva ein, und ich
konnte besser verstehen, was sie damit gemeint haben könnte:
"Nicht seine Muttersprache sprechen. In Klängen, Logiken leben, die von dem
nächtlichen Gedächtnis des Körpers, dem bittersüßen Schlaf der Kindheit
abgeschnitten sind. Sie in sich tragen wie eine geheime Gruft oder wie ein
behindertes Kind, geliebt und unnütz – diese Sprache von einst, die verblasst, aber
euch nie verlässt."
aus: Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp,1990. (Originalausgabe: Étrangers à nous-mêmes. Librairie Arthème Fayard,1988), S. 24
Viele Passanten am Bahnhof schauen erst auf die polnischen Aufschriften und auf das Nummernschild des Busses und dann – mir scheint, kälter und abweisender als sonst – auf die Insassen. Den Blick eines dicken alten Manns kann ich problemlos in meinem Kopf synchronisieren: "Polackn! 't suchn die denn hia? Bestimmpt widda so scheiß billige Schwaazabaita! Odda Leute vonne Russenmafia, stantto sowat inne BILLD! Wat hat Harald Schmidt nomma gestern gesacht...?" Wahrscheinlich hat er noch gar nicht gemerkt, dass er den urdeutschen Namen "Kowalczyk" trägt.
Der Bus setzt sich in Bewegung. Vor uns liegen 1.100 Kilometer; von Kamen bis Berlin nur die gute und vor allem alte A2. Doch vorher kommen noch
ein paar Zwischenhalte in Weltstädten: Herne, Unna, Bielefeld, Hannover. Ab da
geht es so gut wie direkt bis nach Poznan. Peinlich genau halten sich die Fahrer in
Deutschland an alle Tempolimits. Die polnische Grenze naht. Es dämmert. Schon nach etwa einer Stunde sind
wir abgefertigt, und das trotz meines Passbildes, auf dem ich meine "Tag, ich bin
der psychisch gestörte Massenmörder"-Parodie mache. In Polen. Seltsam, der Fahrstil hat sich doch sehr geändert, denn plötzlich
jagt der Bus in bester BMW-Manier – gemäß dem Slogan "Freude am (Platt)Fahren"
– mit Lichthupe erbarmungslos jeden Polski-Fiat, der ihm in die
Quere kommt.
Wahrscheinlich um von diesen unschönen Jagdszenen abzulenken, wird der kleine
Fernseher, der über dem Fahrersitz an der Decke angebracht ist, eingeschaltet
und ein Video eingelegt. Vielleicht wird uns jetzt ein Einblick in die polnische
Fernsehkultur gewährt!?
... Nein.
... Ein amerikanischer TV-movie.
Das ist so authentisch polnisch wie es authentisch indisch wäre, zu einem
Tandoori Chicken eine Pepsi Light zu trinken. - Was soll's. Immerhin besteht die
Möglichkeit, dass wir bei einer untertitelten Version sogar etwas verstehen.
Die Handlung des movie fängt an; wir sehen einen Mann in romantischen Ambiente. Oder was der Regisseur dafür hielt. Also eine offenbar laue
Sommernacht, er hat seinen gebräunten Astralkörper in Abendgarderobe
gezwängt. Er steht an einer Marmorbalustrade, genießt den Blick auf das nächtlich
erleuchtete Los Angeles und in seinen Bourbon. An der Balkontür sind Wolkenstores zu erkennen, hinter denen zwei malerische Kerzen auf einem Tisch
munter herumflackern. Eine Frau, ebenso gebräunt und gestylt wie er (aber
stickstoffblond und langhaarig), kommt aus der Balkontür und gesellt sich zu ihm.
Blickkontakt. Lächeln. Prompt dudelt im Hintergrund ein Saxophon über geigenlastiger mainstream-Sülzmusik. Sie beginnt zu reden.
"Hi John!"
Ah, sehr gut. Der amerikanische Originalton ist immerhin...
"Czesc John!"
Äh, was? Was war das für eine Männerstimme?
"Hi Laura, it's so good to see you."
Nee, die Stimme des Schauspielers war das n...
"Czesc Laura! Mi³o ciê widzieæ!"
Das war's schon wieder!
"Yes, John, it's been a long time but I still love you!"
Sollte etwa...
"Tak, up³yne³o du¿o czasu ale ja ciê jeszcze kocham."
Unglaublich!
"I love you, too."
"Ja ciê te¿."
3. Anmerkung
"Dank":
... (die polnische Schrift kommt auf
Standardbrowsern leider nicht rüber)
An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei Jolanthe Olschimke bedanken,
die für mich den polnischen Text rekonstruiert bzw. neu ins Polnische übersetzt
hat. Ohne sie hätte ich diese Geschichte nur zur Hälfte schreiben können!
Was für eine Synchronisation! Um möglichst ökonomisch zu synchronisieren,
hatte man für sämtliche Rollen, egal, ob Mann oder Frau, nur einen einzigen, männlichen
Synchronsprecher engagiert, nach dem Musketierprinzip "Einer für alle". Für diesen ist offensichtlich das Wort Pathos vollkommen fremd,
denn er spricht seine Sätze bar jeder Leidenschaft. So bleibt die knisternde
Atmosphäre dieser Szene etwas auf der Strecke, und der Aspekt "Mann trifft Frau"
wird akustisch etwas verzerrt. Judith und ich versuchen trotz dieses Realsatirencharakters, den Ernst zu wahren, um unsere Mitreisenden nicht zu
verärgern, die sich alle mehr oder minder gebannt den Film anschauen – jedenfalls
ohne Anzeichen von Belustigung.
Eine neue Szene beginnt. Der immer noch wie aus dem Ei gepellte Protagonist
wird von ein paar bösen Buben belästigt und sein Armani-Anzug droht, von dem ewigen
Herumgeschubse ein paar Falten abzubekommen. Mal sehen, ob hier die Stimmung der Szene besser 'rüberkommt.
"Hey, punk, don't you touch me!"
"Hei punk nie dotykaj mnie!"
"Listen, you son of a bitch, you'll hand over the money and I'll quit touching
you!"
"S³uchaj, ty skurwysynie, daj mi te pieni±dze a ja ciê puszczê !"
"No way, get lost!"
"Napewno nie, spierdalaj!"
Dieses erhitzte Zwiegespräch hatte in der Synchronisation etwa den Esprit
einer Windvorhersage bei Flaute. Von kurzen, unterdrückten Lachkrämpfen
geschüttelt, sehnen Judith und ich das Happy-End dieses Films hierbei. Endlich ist es
erreicht. Die meisten haben es sich schon gemütlich gemacht
und schlafen. Judith sagt mir noch einmal, wie unheimlich bequem die Sitze für sie
ja sind – was ich und mein Kreuz nicht gerade behaupten können – und schlummert
süß ein. "Hach, jetzt bis zur Ankunft…nein, besser nur bis zum Sonnenaufgang
schlafen.", murmelt sie noch. "Gute Idee.", sage ich.
Die Idee ist wirklich gut, aber…
Es ist zum Verrücktwerden!
Ich drehe und wende mich in meinem Sitz und versuche, eine möglichst bequeme Position zum Dösen zu finden. Aber vergebens. Anscheinend können alle
ganz toll schlafen, nur ich nicht. Nach jedem Satz der Schnarchsonate, die mein
Hintermann aufführt, schaue ich auf die Uhr. Erst halb eins. Schon wieder sensationell
ausgedehnte fünf Minuten vergangen. Ich schaue aus dem Fenster. Draußen ist kaum etwas zu erkennen.
Moment.
Doch, da hinten! Aus dem dunklen Nichts sehe ich etwas Erleuchtetes am Straßenrand auftauchen.
Wahrscheinlich ein Schnellimbiss, denke ich mir. Wir
nähern uns ihm immer mehr, und ich beginne, die kirmesartige Beleuchtung zu
bewundern. Nein, es ist gar keine Pommesbude, es ist ein Verkaufsstand für…ich
glaub’ es nicht!!!…für Gartenzwerge! Ich sehe Massen von Gartenzwergen und
geschmackvollen Korbwaren um einen Caravan herum gestellt, umrahmt von farbigen Lichterketten.
Mitten im Nirgendwo.
Mitten in der Nacht.
Offenbar geöffnet.
Kein Kunde zu sehen.
Auch kein Verkäufer.
Kein Mensch.
Wir passieren den Stand und er verschwindet wieder im dunklen Nichts hinter uns, wie einer dieser bizarren Kurzträume, die man meist beim Einschlafen
hat. Keine fünf Kilometer später sehe ich schon wieder so einen Stand! Ich kneife
mich, um sicherzugehen, dass ich wirklich nicht träume. Aua. Wohl nicht. Hm. Die
Realität ist manchmal absonderlicher als jeder Traum.
Im Bus ist es inzwischen ziemlich kalt geworden. Ich lege meine Jeansjacke
über meine Beine…ich könnte natürlich auch nach vorne zu den Fahrern gehen und
bitten, die Heizung anzuwerfen…nein, besser nicht. Ich habe sowieso keine
Ahnung, was "Heizung" auf polnisch heißt. Und ich werde gerade endlich müde.
Endlich! Meine Augen fallen mir immer öfter zu…ich werde immer müder…unser Bus überholt, aber die Lichthupe des auf Kollisionskurs befindlichen
Autos erkenne ich kaum noch. Und das verzweifelte Hupen unseres Busses an die
Adresse des asozialen Sattelschlepperfahrers, der uns nicht wieder einscheren
lassen will, höre ich kaum n…
Kollisionskurs? Hupen?
Aaah! Meine Hände krallen sich um die Armlehnen. Ade, schnödes Leben.
Wenigstens müssen nur der Fahrer und ich unser Ende kommen sehen, die anderen
überrascht es im Schlaf. Schade.
"Masuren": Aus dieser ebenso wunderschönen wie sehr armen Landschaft kamen im 19.Jh. die meisten Einwanderer ins Ruhrgebiet, weil es Arbeit versprach.
Weitere Informationen können aus den diesbezüglichen
Fotos (unten) Und das tauschten sie ein, um der Armut in Masuren zu entkommen: Kumpels im Ruhrgebiet, aus Stadtansichten, Verlag Lothar Junius
4. Anmerkung Es ging dann doch noch gut. Wir sind tatsächlich in Masuren angekommen! ... in der Landschaft meines Urgroßvaters.
Marlies erzählt über
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